23
Ein Dolch in der Scheide ist in einem Kampf nutzlos. Eine Maula-Pistole ohne Projektile ist nicht mehr wert als ein Knüppel. Und ein Ghola ohne seine Erinnerungen ist einfach nur ein Körper.
Paul Atreides, geheimes Ghola-Tagebuch
Nachdem nun die Erinnerungen des Gholas von Dr. Yueh wiederhergestellt waren, wusste Paul Atreides, dass er zu etwas innovativeren Maßnahmen greifen musste, um sich zu erwecken. Paul war von den Ghola-Kindern das älteste, derjenige mit dem (mutmaßlich) größten Potenzial, aber Sheeana und die Beobachterinnen der Bene Gesserit hatten Yueh als Testfall ausgesucht. Doch im Gegensatz zum Suk-Arzt wollte Paul wieder Zugang zu seiner Vergangenheit erhalten. Er sehnte sich nach den Erinnerungen an sein Leben mit und seine Liebe zu Chani, seine Kindheit mit Herzog Leto und Lady Jessica, seine Freundschaften mit Gurney Halleck und Duncan Idaho.
Stattdessen wurde Paul von seinen Visionen der Zukunft geplagt, in denen er seinen eigenen zweifachen Tod sah. Und er wurde zunehmend ungeduldiger.
Wie konnten die Passagiere des Nicht-Schiffes glauben, dass der nächste Angriff mit ausreichend Vorwarnzeit erfolgen würde? Erst vor einigen Monaten waren sie dem Netz des Feindes nur knapp entronnen, und es war heller und stärker als je zuvor gewesen. Eine weitere große Sorge war, dass der Saboteur immer noch nicht gefasst war. Obwohl er nichts mehr getan hatte, das so dramatisch wie der Mord an den Axolotl-Tanks und ungeborenen Ghola-Kindern gewesen war, blieb die Gefahr präsent.
Paul wusste, dass die Ithaka ihn brauchte, und er hatte es satt, nur ein Ghola zu sein. Er wollte eine Idee ausprobieren, die gleichzeitig verzweifelt und gefährlich war, aber er schrak nicht davor zurück. Seine wahren Erinnerungen hingen wie eine Fata Morgana knapp hinter dem Hitzeflimmern des Horizonts.
Mit der treuen Chani an seiner Seite stand er vor der Luke, die in den großen, mit Sand gefüllten Frachtraum führte. Er hatte niemandem erzählt, was er zu tun beabsichtigte. Während der vergangenen zwei Jahre hatten sich der Bashar und der eifrige Thufir Hawat alle Mühe gegeben, die Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen, aber niemand bewachte den Eingang zum Frachtraum. Die sieben Sandwürmer wurden als hinreichend gefährlich erachtet, um die Rolle ihrer eigenen Wachhunde übernehmen zu können. Nur Sheeana durfte sich gefahrlos zu den großen Geschöpfen wagen, und als sie es das letzte Mal getan hatte, war selbst sie vorübergehend verschluckt worden.
Paul betrachtete Chanis wunderschönes elfenhaftes Gesicht und ihr dichtes dunkelrotes Haar. Auch ohne Wissen über sein früheres Leben, über seine Bestimmung, mit ihr zusammen zu sein, hätte er das Fremenmädchen als atemberaubend anziehend empfunden. Sie wiederum musterte systematisch seinen neuen Spezialanzug mit dem Werkzeug. »Du siehst wie ein echter Fremenkrieger aus, Usul.«
Nachdem sie die Aufzeichnungen studiert und mit einer Fabrikationsanlage in der technischen Abteilung gearbeitet hatte, war es Chani gelungen, einen authentischen Destillanzug für ihn herzustellen – vermutlich das erste Exemplar seit Jahrhunderten –, und hatte ihn mit einem Seil, Bringerhaken und Klammern ausgestattet. Die ungewöhnlichen Werkzeuge fühlten sich in seinen Händen seltsam vertraut an. Nach der Legende hatte Muad'dib ein gefährliches Monstrum herbeigerufen und war zum ersten Mal auf einem Wurm geritten. Obwohl diese Geschöpfe in der Gefangenschaft des Frachtraums nicht zur vollen Größe heranwachsen konnten, waren sie dennoch Giganten.
Die Luke ging auf, und Chani und er traten in die künstliche Wüste. Als ihm der Feuersteingeruch und die trockene Hitze entgegenschlugen, sagte er: »Bleib hier, wo es sicher ist. Ich muss diesen Weg allein gehen, sonst hat es keinen Sinn. Wenn ich mich dem Wurm stelle und ihn reite, könnte das mein Gedächtnis aktivieren.«
Chani versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Sie verstand die Notwendigkeit genauso gut wie er.
Er stieg die erste Düne empor, hinterließ seine Fußspuren im Sand und hob beide Hände. »Shai-Hulud!«, rief er. »Ich bin zu dir gekommen!« In diesem begrenzten Raum brauchte er keinen Klopfer, um die Würmer zu rufen.
Etwas in der Luft veränderte sich. Er spürte, wie sich in den flachen Dünen etwas bewegte, und sah sieben schlangengleiche Gestalten auf sich zukommen. Statt zu fliehen, lief er ihnen entgegen und suchte eine Stelle, wo er einen von ihnen besteigen konnte. Sein Herz pochte. Seine Kehle war trotz der Destillmaske, die seinen Mund und die Nase bedeckte, völlig trocken.
Paul hatte sich Holofilme angesehen, um die Technik der fremenitischen Sandreiter zu studieren. Theoretisch wusste er, was zu tun war, genauso wie er – theoretisch – die Tatsachen aus seiner Vergangenheit kannte. Aber ein theoretisches Verständnis war etwas ganz anderes als die tatsächliche Erfahrung. Als er nun klein und verletzlich auf dem Sand stand, kam ihm in den Sinn, dass die effektivste Form des Lernens das Tun war, da es ein viel tieferes Verständnis vermittelte als das Stöbern in verstaubten Archiven.
Ich werde gut lernen, dachte er und ließ die Furcht von sich abfallen.
Mit dem Geräusch von rieselndem Sand schob sich einer der Würmer auf ihn zu. Er hob den Haken und die Klammer und ging in die Hocke, um sich auf den Sprung vorzubereiten. Die Bewegungen des Monstrums waren nun so laut, dass er die Rufe der Frau zunächst gar nicht hörte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Sheeana über die Dünen hetzte und sich vor ihn warf. Der größte der Würmer brach wie eine Explosion durch die Sandoberfläche und erhob sich vor ihm. Im riesigen runden Maul funkelten die kristallinen Zähne.
Sheeana hob die Hände und rief: »Halt ein, Shaitan!«
Der Wurm zögerte und schaukelte den Kopf hin und her, als wäre er verwirrt.
»Halt! Dieser ist nicht für dich.« Sie legte eine Hand auf die Brust von Pauls Destillanzug und schob ihn hinter sich. »Er ist nicht für dich, Monarch.«
Als würde er schmollen, zog sich der Wurm zurück, den augenlosen Kopf weiterhin auf die Menschen gerichtet. »Geh zurück zur Luke, du dummer Junge«, fuhr Sheeana Paul zischend an. Dabei setzte sie gerade so viel von der Stimme ein, dass seine Beine reagierten, bevor er nachdenken konnte.
Duncan Idaho war ebenfalls zur Luke gekommen und blickte finster drein. Chani wirkte gleichzeitig ängstlich und erleichtert.
Sheeana führte Paul zu den wartenden Beobachtern. »Dieser Wurm hätte dich vernichtet!«
»Ich bin ein Atreides. Sollte ich nicht in der Lage sein, sie genauso zu beherrschen, wie du es kannst?«
»Das ist eine Theorie, die ich nicht an dir ausprobieren möchte. Du bist viel zu wichtig für uns. Wenn von allen Gholas ausgerechnet du dein Leben durch eine Dummheit wegwirfst, was sollen wir dann noch machen?«
»Aber wenn du mich zu sehr beschützt, bekommst du nie, was du haben willst. Der Ritt auf einem Wurm hätte mein Gedächtnis zurückbringen können. Dessen bin ich mir ganz sicher.«
»Ihr habt Yueh wiederhergestellt«, gab Chani zu bedenken. »Warum nicht auch Usul? Er ist viel älter.«
»Yueh war entbehrlich, und wir waren uns nicht ganz sicher, was wir mit ihm tun. Wir haben bereits detaillierte Pläne ausgearbeitet, wie wir Liet-Kynes und Stilgar erwecken werden, und wenn wir bei ihnen Erfolg haben, folgen vielleicht andere – einschließlich Thufir Hawat und dir, Chani. Eines Tages wird auch Paul Atreides seine Chance erhalten. Aber erst, nachdem wir uns ganz sicher sind.«
»Und wenn wir gar nicht mehr genug Zeit haben?« Paul drehte sich um und entfernte sich, während er sich Sand und Staub von seinem neuen Destillanzug klopfte.
* * *
Duncan erwachte von einem lauten Signal, das die Tür zu seinem Quartier von sich gab. Sein erster Gedanke war, dass Sheeana noch einmal zu ihm gekommen war, trotz ihrer gegenseitigen Bedenken. Er schob die Tür auf und machte sich auf eine Diskussion gefasst.
Paul stand im Korridor. Er trug die Nachbildung einer Militäruniform der Atreides, ein Anblick, der in Duncan automatisch Respekt und Loyalität auslöste. Der junge Mann hatte sich absichtlich so gekleidet. Zu diesem Zeitpunkt war der Ghola von Paul fast genau im gleichen Alter wie das Vorbild, als Arrakeen von den hinterhältigen Harkonnens besetzt worden war, als der erste Duncan gestorben war, als er ihn und seine Mutter verteidigen wollte.
»Duncan, du sagst, dass du ein enger Freund von mir warst. Du sagst, du hättest Paul Atreides gekannt. Hilf mir jetzt.« Er fasste den kunstvoll geschnitzten Elfenbeingriff und zog einen bläulich-weiß schimmernden Kristalldolch aus einer Scheide an seiner Hüfte.
Duncan starrte voller Erstaunen darauf. »Ein Crysmesser? Es sieht ... ist es echt?«
»Chani hat es aus einem Wurmzahn gemacht, den Sheeana im Frachtraum gefunden hat.«
Atemlos berührte Duncan die Klinge mit den Fingern und bemerkte, wie hart und scharf sie war. Er glitt mit dem Daumen über die Schneide und fügte sich absichtlich eine kleine Schnittwunde zu. Er ließ einen einzigen Blutstropfen auf das milchweiße Messer fallen. »Nach der uralten Tradition darf ein Crysmesser nie gezogen werden, wenn es kein Blut schmecken kann.«
»Ich weiß.« Paul wirkte offensichtlich besorgt, als er die Waffe zurücknahm und wieder in die Scheide steckte. Nach kurzem Zögern platzte er mit dem heraus, was er sagen wollte. »Warum wollen die Bene Gesserit mich nicht erwecken, Duncan? Ihr braucht mich. Jeder an Bord dieses Schiffes braucht mich.«
»Ja, junger Herr. Wir brauchen dich, aber wir brauchen dich lebend.«
»Ihr braucht meine Fähigkeiten, und zwar so schnell wie möglich. Ich war der Kwisatz Haderach, und dieser Ghola ist genetisch identisch. Stell dir vor, wie ich euch helfen könnte.«
»Der Kwisatz Haderach ...« Duncan seufzte und setzte sich auf sein Bett. »Die Schwesternschaft hat Jahrhunderte für seine Erschaffung benötigt, aber gleichzeitig hatte sie große Angst vor ihm. Angeblich kann er Zeit und Raum überbrücken, in die Zukunft und die Vergangenheit blicken, dorthin, wo selbst eine Ehrwürdige Mutter niemals zu blicken wagt. Durch brutale Gewalt oder Tücke kann er ein Bündnis zwischen den verfeindetsten Parteien schmieden. Er ist ein Füllhorn mit unvorstellbarer Macht.«
»Was auch immer das für eine Macht ist, Duncan, ich brauche sie. Und dafür brauche ich meine Erinnerungen. Überzeuge Sheeana, mich als Nächsten auf die Probe zu stellen.«
»Sie wird tun, was sie tun wird, und sie wird über den Zeitpunkt entscheiden. Du überschätzt den Einfluss, den ich bei den Schwestern habe.«
»Aber was ist, wenn der Feind uns mit seinem Netz fängt? Was ist, wenn der Kwisatz Haderach unsere einzige Hoffnung ist?«
»Auch Leto II. war ein Kwisatz Haderach, obwohl weder du noch dein Sohn so wurden, wie die Bene Gesserit beabsichtigt hatten. Die Schwestern haben große Angst vor jedem, der ungewöhnliche Fähigkeiten entwickelt.« Er lachte. »Als die Schwesternschaft nach der Diaspora den großen Duncan Idaho zurückkehren ließ, warfen einige von ihnen sogar mir vor, ein Kwisatz Haderach zu sein. Sie töteten elf meiner Gholas, entweder durch Häretiker der Bene Gesserit oder Intriganten der Tleilaxu.«
»Aber warum wollen sie auf diese Macht verzichten? Ich dachte ...«
»Natürlich wollen sie die Macht, Paul, aber nur unter genauestens kontrollierten Bedingungen.« Er empfand großes Mitgefühl für den jungen Mann, der so verloren und so verzweifelt wirkte.
»Ohne meine Vergangenheit kann ich nichts bewirken, Duncan. Hilf mir, sie wiederzufinden! Du hast einen Teil davon an meiner Seite miterlebt. Du erinnerst dich.«
»Oh ja, ich erinnere mich sehr gut.« Duncan verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. »Ich erinnere mich an deine Taufe auf Caladan, nachdem du als Baby beinahe im Zuge einer imperialen Intrige ermordet worden wärst. Ich erinnere mich, wie die ganze Familie von Herzog Leto während des Krieges der Assassinen in Gefahr geriet. Mir wurde die große Ehre übertragen, dich in Sicherheit zu bringen, und wir beide zogen gemeinsam hinaus in die Wildnis von Caladan. Wir wohnten bei deiner verbannten Großmutter Helena, und wir versteckten uns unter den einfachen Bewohnern von Caladan. In dieser Zeit sind wir zu guten Freunden geworden. Ja, an all das erinnere ich mich noch sehr gut.«
»Ich nicht«, erwiderte Paul seufzend.
Duncan schien sich in der Abfolge seiner vergangenen Leben zu verlieren. Caladan ... Arrakis ... die Harkonnens ... Alia ... Hayt. »Weißt du, worum du mich bittest, wenn du deine Erinnerungen, dein Leben wiederhaben willst? Die Tleilaxu haben meinen ersten Ghola als Mordwerkzeug erschaffen. Sie haben mich manipuliert, weil ich dein Freund war. Sie wussten, dass du mich nicht abweisen konntest, obwohl du die Falle erkannt hast.«
»Ich hätte dich niemals abgewiesen, Duncan.«
»Ich hatte das Messer bereits gegen dich erhoben und wollte zustechen, aber im letzten Moment geriet ich in Konflikt mit mir selbst. Der programmierte Assassine wurde zum loyalen Duncan Idaho. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Qualen ich durchlebt habe!« Er richtete ernst einen Zeigefinger auf den jungen Mann. »Für den Zugriff auf deine Vergangenheit wäre eine ähnlich schwere Krise nötig.«
Paul schob entschlossen den Unterkiefer vor. »Ich bin bereit. Ich habe keine Angst vor Schmerzen.«
Duncan runzelte die Stirn. »Du bist viel zu ausgeglichen, junger Paul, weil deine Chani dir Halt gibt. Sie stabilisiert dich und macht dich glücklich – und das ist ein großer Nachteil. Sieh dir im Gegensatz dazu Yueh an. Er hat sich mit jeder Faser seines Seins gegen die Erinnerung gewehrt, und daran ist sein Widerstand zerbrochen. Aber du ... wo könnten sie bei dir den Hebel ansetzen, Paul Atreides?«
»Wir müssen nur irgendetwas finden.«
»Bist du wirklich dazu bereit?« Duncan beugte sich vor und sah ihn mit gnadenlosem Blick an. »Was wäre, wenn die einzige Möglichkeit, deine Vergangenheit wiederzufinden, darin bestünde, Chani zu verlieren? Was wäre, wenn sie blutend in deinen Armen sterben muss, damit du dich erinnerst?«